Atman, Atma (Ātman, Ātmā), auch Jiva oder Jivatman (Jīva, Jīvātman) genannt. Alles vielschichtige Begriffe. Das ewige Selbst.
Im Kern unverändert bleibt jedoch immer die Bedeutung, dass der Atman einer vollkommen anderen Kategorie angehört, als all das, was aus der Gesamtheit aller sichtbaren und unsichtbaren, sich fortwährend wandelnden messbaren Natur der Maya-Shakti stammt.
Wird oft mit Geist oder Seele übersetzt. Was sich in solchen Übersetzungen genau auf Atman bezieht, muss aus dem Kontext heraus verstanden werden. Manchmal steht Geist für Atman und manchmal ist es die Seele.
Hier auf der Vishnupedia wird Seele synonym für Atman benutzt.
Inhaltsverzeichnis
Was ist der Atman?
Atman ist ein Lichtfunke aus dem Strahlenmeer, welches unaufhörlich vom spirituellen Körper Krishnas (dem Allanziehenden) ausgeht. Die Gesamtheit dieses Strahlenmeers, das die unendliche spirituelle Sphäre ausfüllt, nennt man Brahmajyoti. In Bezug auf die einzelnen Lichtfunken wird sie in ihrer Gesamtheit Tata-stha-Shakti genannt, die marginale (mittlere) Kraft Gottes. Jeder dieser winzigen Lichtfunken ist ein individueller Atman, der im verkörperten Zustand auch Jiva genannt wird. Alle Shaktis Gottes sind Brahman, von derselben spirituellen Qualität, auf unvorstellbare Weise mit dem Parabrahman (Gott) identisch, aber gleichzeitig ewig von ihm verschieden. Aus Gottes Sicht ist alles mit ihm eins, da alles aus ihm stammt. Aus der Sicht des Atman ist alles qualitativ eins mit ihm, aber quantitativ von ihm individuell verschieden.
Das heißt: Ich bin nicht Gott, ich bin auch nicht die Gesamtheit aller Atmans und ich bin nicht Materie (sowohl grob- als auch feinstofflich).
Sat (ewiges Sein), Cit (vollkommene Erkenntnis) und Ananda (göttliche Wonne, Glückseligkeit) sind die natürlichen Eigenschaften des Atman. Je nach Aufenthaltsort besitzt er eine:
zeitweilige Gestalt, geformt aus den Stoffen Maya-Shakti,
keine Gestalt, als reiner Atman im göttlichen Lichtmeer des Brahmajyoti, oder eine
ewige Gestalt aus Cit-Shakti, in den unendlichen Gottesreichen (Vaikuntha).
Atman ist das ewige göttliche Selbst, d. h., die im Körper anwesende göttliche Seele (Jiva), eine ewige, individuelle Emanation von Gott selbst. Wir, die Atmans, sind daher im wahrsten Sinne des Wortes die Söhne oder Töchter Gottes, aber nicht in der vergänglichen physischen Vorstellung, wie manche glauben. Der Atman ist weder weiblich, noch männlich. Innerhalb der Maya-Shakti sind es die Ego-Wünsche, verbunden mit karmischen Reaktionen, die zum jeweiligen Körper führen. Das Geschlecht ist nie fix festgelegt. In den unendlichen Welten Vaikunthas bestimmt die dem Atman innewohnende Art der Liebe zum Höchsten die spirituelle Gestalt.
Der verkörperte Atman
Wird über das Lebewesen als Atman gesprochen, bezieht sich dies allein auf die ewige und unveränderliche innerste Identität. Es ist diese innerste unzerstörbare Individualität, die von den feinstofflichen Hüllen (Manas: Denken, Fühlen, Wollen; Buddhi: Intelligenz, Verstand; Ahankara: Falsches Ego) und dem grobstofflichen Körper eingekleidet und bedingt wird. Es ist auch der Atman, das ewige Selbst, das diesen Hüllen ein scheinbares Leben verleiht.
„Das Selbst wird nie geboren und es stirbt zu keiner Zeit. Es ist immerwährend, ungeboren, ewig, uralt und wird nicht zerstört, wenn der Körper vernichtet wird.“
(Krishna in der Bhagavad-Gita 2.20)
Woher kommt der Atman?
Der Veda arbeitet oft mit Analogien, uns bekannten „Bildern“, um sich der unbeschreibbaren ewigen Wirklichkeit anzunähern. Erschwerend hinzu kommt der Fakt, dass die Analogie-Bilder aus früheren Jahrtausenden nicht den „Bildern“ unserer Zeit entsprechen.
Egal ob wir die „Bilder“ kennen oder nicht (und diese folglich entsprechend interpretieren), man sollte jede Analogie als Hilfestellung zur Annäherung verstehen und nicht mit der transzendenten Wirklichkeit gleichsetzen. Denn diese liegt in Tat und Wahrheit immer jenseits aller Analogien und jenseits unserer Verstandeskraft.
Der Veda spricht von drei Hauptkräften Gottes:
- Cit-Shakti, die spirituelle Kraft,
- Tata-stha-Shakti, die am Rande verlaufende Energie, die Gesamtheit der Atmans, und
- Maya-Shakti, die Gesamtheit der materiellen Energie.
Die Atmans werden manchmal auch die „in der Mitte“ verlaufende Kraft oder Energie genannt, weil sie sich zwischen den anderen zwei großen Kräften Gottes bewegen.
Im Brahmajyoti genießen die Atmans – gewissermaßen völlig selbstvergessen, wie in einer extrem tiefen Meditation – in einem absolut passiven Zustand das Glück, welches von der Cit-Shakti ganz natürlich ausströmt. Wenn nun ein Atman, einer dieser spirituellen Lichtfunken – berührt von diesem Glück (ananda) – Aktivität entfaltet, geschieht ganz automatisch eine Art innerer Prozess.
Hierzu muss man verstehen, dass im Bereich des Lichtmeeres, der göttlichen Ausstrahlung (Brahmajyoti), die Atmans keine persönlichen oder individuellen Merkmale entfalten. Ihre ewige Individualität ist vorhanden, aber ihre Fähigkeit, Erkenntnis und Glück zu steigern (durch innere oder äußere Aktivität), befindet sich – einfach gesagt – in einem deaktivierten, passiven Zustand.
Wenn jetzt – hervorgerufen durch die Impulse des statisch erfahrenen Glücks – der Atman quasi erwacht und dieses Glück erweitern möchte, erwacht ebenfalls sein natürliches aktives Wesen, welches das Glück aktiv steigern will.
Dafür braucht es aber einen geeigneten Ort. Das ist entweder die materielle Energie, Maya-Shakti, mit ihren zahllosen Universen oder die spirituelle Energie, Cit-Shakti, mit ihren unendlichen Gottesreichen, Vaikuntha.
Beim „Erwachen“ können nun zwei grundsätzlich verschiedene innere „Haltungen“ im Atman Ausdruck finden:
- Als individuelles Teil Gottes, als winzige Emanation von ihm, besitzt der Atman im Kleinen die Eigenschaften, die Gott selbst in unmessbarem Ausmaß besitzt. Eine dieser Eigenschaften ist: Gott ist das natürliche Zentrum aller Dinge und somit auch der natürliche Genießer aller Dinge.
- Ein anderer Aspekt seiner Persönlichkeit ist sein unendlicher Drang, die Wünsche aller bewussten Wesen (Atman) zu erfüllen, ihnen allen zu dienen, um sie, entsprechend ihren Wünschen, glücklich zu machen.
Zusammengefasst aus den Erklärungen von Swami B.R. Sridhara in „Auf der Suche nach Govinda“, 4. Kapitel.
Der indirekte Weg
Wenn nun im erwachenden Atman das Bewusstsein „Ich bin Zentrum“ und „Genießer“ die Oberhand gewinnt, besteht in der Cit-Shakti, wo sich alle Atmans über das wahre Zentrum bewusst sind, keine Möglichkeit, diesen Wunsch „Zentrum und Genießer zu sein“ zu leben. Für diese Grundhaltung des Atman steht die materielle Energie, Maya-Shakti, als Wunscherfüller zur Verfügung.
Eingehüllt in ein materielles Ich-Bewusstsein (Ahankara), sich selbst des Atman-Seins nicht bewusst, genießt der Atman die zeitweilige Erfahrung von „Ich stehe im Zentrum des Seins und ich bin der Genießer und Schöpfer“.
Dieses „Zentrum-sein-wollen“ hat aber noch eine weitere Konsequenz. Kein Atman hat die Berechtigung, seinen Anspruch gegenüber den anderen – feinstofflich oder grobstofflich – verkörperten Atmans, die alle von derselben göttlichen Natur sind, durchzusetzen. Daher unterstehen alle dem Gesetz des Karma, welches im Kreislauf des materiellen Seins dafür sorgt, dass jeder Atman mit den Folgen des eigenen Tuns konfrontiert wird, um durch diese Erfahrungen, die sich dem Unterbewusstsein (Citta) einprägen, zu lernen. Die wichtigste Lektion, die es aber durch das Karma und den Kreislauf der Wiedergeburten zu lernen gibt, ist die Erkenntnis, dass wir uns im Gefühl, wir seien das wahre Zentrum und die wahren Genießer geirrt haben. Folglich beginnt die Suche nach dem wirklichen Zentrum, dem höchsten Paar Radha-Krishna, das wir noch gar nicht persönlich kennen.
Der direkte Weg
Sobald der im Brahmajyoti erwachende Atman vom Impuls oder Wunsch, der Quelle des bereits erfahrenen Glücks zu dienen (bzw. seine Liebe auf sie zu richten) erfüllt wird, kommt er unmittelbar und direkt in die spirituelle Welt. Hier in den Gotteswelten erhält der Atman den perfekt zu seinem Wesen und seiner Liebe passenden ewigen spirituellen Körper. In seiner ewigen Identität genießt er nun den Liebesaustausch mit Gott in dessen unausdenkbaren, ewig spontanen Spielen.
Siehe hierzu auch unter Bhakti-Yoga.
Laut Veda machen gerade 25 % aller Atmans ihren Weg via die Maya-Shakti. Der Rest geht – aufgrund der inneren Haltung – den direkten Weg.
Ist der Atman ein winziger Avatara?
Avatara bezieht sich auf das persönliche Herabsteigen Gottes oder auf seine persönliche Shakti (Kraft), die einem beauftragten Atman verliehen wird. Ein Avatara – sei es Vishnu selbst oder seine Shakti, welche einen Atman erfüllt und der so zum Shakti-Avesha-Avatara wird – kommt immer aus der Cit-Welt, Vaikuntha. Die in die Materie verstrickten Atmans waren noch nie in Vaikuntha, sie kamen alle aus der Tata-stha-Shakti, der am Rande verlaufenden Energie Gottes. Die Aussage Krishnas ist klar. Jeder, der sein ewiges Reich erreicht, muss nie mehr in den Kreislauf von Geburt und Tod zurück.
Unsere Sprache zementiert die falsche Identität
Oft hört man die Frage: „Lebt meine Seele nach dem Tode weiter?“ Oder auch die Aussage: „Wir Menschen besitzen eine Seele, Tiere nicht.“ Solche Fragen und Behauptungen sind letztlich nur sprachliche Ausdrucksformen der Unwissenheit, welche unsere falsche Identifizierung mit Materie, dem Veränderlichen, zum Ausdruck bringen.
Der Veda würde dazu sagen: „Wir können keine Seele (Atman) haben, die nach dem Tode evtl. weiter existiert!“
Warum?
Wir sind die ewige Seele, bzw. Atman, und als solches sind wir eingehüllt in geistig-materielle und physisch-materielle Körper, die von ewig veränderlicher Natur sind.
Tod bedeutet folglich: Wir (Atman) verlassen, gemeinsam mit dem geistig-materiellen Körper, den physischen Körper, mit dem wir uns bis anhin identifiziert haben. Siehe auch Wiedergeburt.
Der physische Körper hat in Wirklichkeit nie gelebt, er wurde von uns (Atman) lediglich belebt, ähnlich wie ein Auto oder Flugzeug lebendig erscheint, jedoch das scheinbare Leben durch den Fahrer oder Piloten erhält.
Das Gehirn könnte man in dieser Analogie mit einem höchst komplizierten Bordcomputer mit vorinstallierter Software vergleichen: Viele Dinge sind veränderbar, aber grundlegend wichtige Funktionen sind auf solche Art in den Bordcomputer integriert, dass der Pilot keinen Einfluss nehmen kann. Analog braucht sich der Fahrer keine Gedanken über Airbag, ABS und andere automatisierten Hilfen zu machen. Dasselbe gilt für voll automatisierte Systeme, die das autonome Fahren ermöglichen, weil dahinter immer das Bewusstsein eines oder mehrerer Menschen steht.
Auf ähnliche Weise sind in unserem feinstofflichen Körper „Basisprogramme“ integriert, die sich aufs Gehirn übertragen, welche als Relaisstation zwischen dem Atman in seinem feinstofflichen Körper und seinem physischen Körper dient. So müssen wir niemals daran denken, das Herz schlagen zu lassen, die Nieren oder Leber arbeiten zu lassen. Viele Funktionen werden via Gehirn oder unbemerkt vom feinstofflichen Körper gesteuert, ohne dass wir auch nur daran denken müssten, und wenn jemand doch mal daran denkt, hat er meistens keine Ahnung, wie es funktioniert.
Jedoch zu glauben, die Persönlichkeit sei mit den elektrochemischen Prozessen des Gehirns identisch oder würde durch diese erschaffen, ist dasselbe, wie wenn man glauben würde, ein Auto oder Flugzeug würde mithilfe des Bordcomputers die individuelle Persönlichkeit des Fahrers/Piloten erschaffen.
Oberflächliche Betrachter vermuten, die individuelle Persönlichkeit sei ein Produkt des Gehirns, sozusagen die Summe der Datenverarbeitung des Gehirns. Dabei wäre gerade in diesem Fall unsere Sprache richtig gut gestimmt. Wir sagen nämlich „mein Gehirn“, nicht „ich Gehirn“; „mein Körper“, nicht „ich Körper“, „ich besitze Intelligenz oder Verstand“, nicht „ich bin Intelligenz oder Verstand“. Auf jeden Teil des Körpers und sogar auf den Intellekt erheben wir sprachlich einen Besitzanspruch.
Die dahinterstehende Persönlichkeit, welche diesen Besitzanspruch auf Körper und Intellekt erhebt, ist der Atman, der sich unter dem Einfluss des falschen Ego (Ahankara), automatisch mit diesem „Besitz“ identifiziert und ihn verteidigt.
Der Atman in spiritueller Umgebung
Die Anhänger des Advaita-Vedanta sehen den Atman als reines Brahman, frei von jeglichen Attributen oder Eigenschaften. Ihre Vollkommenheit besteht in der Rückkehr ins Brahmajyoti, in die Einheit aller (noch) passiv genießenden Atmans, die in diesem Zustand des Einheitserlebens ihr individuelles Wesen nicht wahrnehmen. Diese Wahrnehmung ist nicht falsch, sie ist real. Und dennoch spiegelt sie nur einen Aspekt des Atman, der (noch) nicht liebend dem höchsten Atman dienen möchte.
Die Vaishnavas erkennen den Atman als ewiges transzendentes Individuum, erfüllt mit nicht-materiellen Eigenschaften.* In Vaikuntha, der ewigen spirituellen Welt, erhält und besitzt der Atman eine ewige, seiner Sthayi-Bhava (seiner ihm eigenen, innewohnenden Liebeshaltung gegenüber Gott) entsprechende spirituelle Gestalt. Die Gestalt ähnelt, entsprechend dem jeweiligen Gottesreich, der Gestalt Gottes selbst oder seiner persönlichen Shakti.
* Rupa Goswami, ein Schüler von Krishna-Chaitanya, beschreibt diese Eigenschaften ausführlich in seinem Werk Bhakti-Rasamrita-Sindhu.
Jeder der Mitspieler Gottes in seinem Spiel (Lila) besitzt von Ewigkeit her eine dauerhafte Gestalt (Vigraha) seiner liebenden Beziehung zu Gott (Sthayi-Bhava). Der Körper eines solchen Gefährten Gottes, auch wenn er oder sie am Spiel auf Erden teilnimmt, ist nicht aus Fleisch und Blut, sondern ist Bestandteil der Cit-Shakti und bildet daher die wahre ewige Einheit von Gestalt und Atman.
Siehe auch