Vishnuismus – Vaishnavatum

Das Vaishnavatum oder Vishnuismus ist die (mono-)theistische Strömung im geografischen Gebiet des Hinduismus. Die höchste zu verehrende Gottheit ist Vishnu-Narayana, der beste aller Wesen. Er wird immer gemeinsam mit seiner Frau (Shakti) Lakshmi verehrt. 

Hinter dem Begriff Vishnuismus stehen vier traditionelle Schüler-Lehrer-Nachfolgelinien (Sampradayas). Die Hauptformen ihrer Verehrung richten sich auf:

  • Vishnu (von dessen Namen sich der Begriff Vishnuismus oder Vaishnavatum ableitet), der hauptsächlich in seiner Gestalt als vierarmiger Narayana, zusammen mit seiner ewigen Gemahlin Lakshmidevi, der Glücksgöttin, verehrt wird.
  • Rama, den heldenhaften Prinzen, dessen Taten im Epos Ramayana beschrieben sind. Berühmter Held und Verehrer von Rama und seiner ewigen Gemahlin Sita ist Hanuman.
  • Krishna, der unter vielen Namen wie Vāsudeva, Hari, Govinda, Gopala, Bhagavan usw. bekannt ist. Er wird in erster Linie zusammen mit seiner ewigen Gefährtin Radha verehrt.

So finden sich in den Vaishnava-Tempeln immer beide Aspekte des Herrn, er selbst und seine Shakti in weiblicher Gestalt, also Lakshmi-Narayana, Sita-Rama, Radha-Krishna usw.

Vishnu-Narayana von Vaikuntha ist zu unterscheiden vom Vishnu aus der Dreiheit der Guna-Verwaltung in den zahllosen Universen der Maya-Shakti: Brahma, der Schöpfer; Vishnu, der Erhalter; und Shiva, der Vernichter.
Vishnu, dem Erhalter, sind alle Devas (Halbgötter) untergeordnet. Er ist einer der zwei Erweiterungen Mahavishnus.

Gott, in der Gestalt Krishnas, Ramas, Narayanas usw. ist und bleibt immer Einer ohne einen Zweiten. Er ist durch seine Kräfte frei, sich in eine beliebige Anzahl von Gestalten/Formen zu erweitern oder auch nur seine eigene ursprüngliche Gestalt beliebig zu vervielfältigen, ohne dabei irgendetwas von sich zu verlieren.
Damit wird deutlich, wie sich das Verständnis über den Einen, den höchsten Herrn (Gott) im Vaishnavatum vom Verständnis Gottes in den abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) unterscheidet.
Erst in jüngerer Zeit wurde diese Vielheit des Einen, teils auch von religionswissenschaftlicher Seite, als ein Ein-Gottes-Konzept verstanden und schließlich auch offiziell als monotheistische Religion auf der Wikipedia anerkannt.

Sich beliebig zu vervielfältigen, erachtet der Verehrer Vishnus, der Vaishnava, als eine selbstverständliche, ewige Eigenschaft Gottes, der damit seine Fähigkeit demonstriert, dass er mit jeder einzelnen Seele (Atman) eine individuelle Beziehung pflegen kann. Sie verstehen dies als Ausdruck seiner unbegrenzten Macht, und nicht als die Manifestation unterschiedlicher – in Konkurrenz – stehender Gottheiten.

Wissenschaftliche Betrachtungen

im 2. Jh. v. Chr. war die Verehrung Vāsudeva-Krishnas schon wieder weit über Indien verbreitet (siehe Die Garuda-Säule von Heliodurus). Die Wikipedia verwechselt den genannten Vāsudeva noch heute (20.03.2022) mit Krishnas Vater Vasudeva.
Vishnu selbst wird bereits im Rigveda als der höchste Herr erwähnt (RV 1.154 – 1.156).

Die Chandogya-Upanishad (english), zitiert den Weisen Narada Muni mit folgender Aussage zum Veda:

„Ich kenne Rig-Veda, Yajur-Veda, Sama-Veda und den Atharva-Veda als den vierten Veda. Die Itihasas und Puranas kenne ich als fünften Veda. Ich bin vertraut mit den Pancaratras (Ekayanam) und den Sutras (Lehrschriften zu bestimmten Wissensgebieten)….“

Sanatkumara, der hier im siebten Prapathaka der Chandogya-Upanishad zu Narada spricht, nennt ebenfalls mehrmals die Itihasas und Puranas den fünften Veda.

Die Chandogya-Upanishad – nach moderner Auffassung eine der ältesten Upanishaden – erwähnt also mehrmals die Itihasas und Puranas, welche die Verehrung von Krishna, Rama und Narayana lehren. Daraus lässt sich zweifelsfrei schließen, dass viele der angeblich „wissenschaftlichen“ Datierungen, welche die Itihasas und Puranas in eine viel jüngere Zeitepoche als den Chandogya-Upanishad legen, mit Vorsicht zu genießen sind. Zudem ist es hier der, von der Wissenschaft anerkannte, Veda, welcher die Itihasas und Puranas ebenfalls zum Veda zählt, was leider von vielen wissenschaftlichen Quellen entweder nicht gewusst oder gar bestritten wird.

Zeitloses Wissen

Die Vaishnavas selbst sagen auf der Grundlage des Veda, die Verehrung Vishnus als höchste Gottheit sei uralt und das Wissen darüber reiche unberechenbar weit zurück in uns unbekannte Zeitalter (Yugas). Laut Veda selbst sei damals der eine Veda immer mündlich überliefert worden (Ausnahme bildet immer nur das Kali-Yuga). Diese Ansicht wird auch durch die Bhagavad-Gita (4.1-3) vertreten.

Gleichzeitig sei es aber vollkommen unwichtig, wann Wissen (Veda) in der Welt erscheint. Nicht das Alter, sondern das Wissen an sich, sei bedeutsam. Veda stamme von Gott und sei ohne Anfang wie er selbst und das Erscheinen von Wissen sei vergleichbar mit dem Erscheinen der Sonne am frühen Morgen. Diese Analogie betrachtet es als ein Zeichen von Unwissenheit, wenn man denkt, die Sonne (bzw. Wissen) würde während der Nacht nicht existieren. Die Datierung von transzendentem Wissen (Veda), sei an und für sich ein wertloser Versuch, das Ewige dem Vergänglichen anpassen zu wollen. Genauso gut könne man versuchen festzulegen, an welchem Morgen eine hypothetisch ewige Sonne zum ersten Mal zu scheinen begann.

Nach Vorstellung der Vaishnavas (Vishnuiten) offenbart sich Vishnu in zahllosen Avataras, um Recht und Ordnung (Dharma) immer wieder von neuem zu etablieren. Die Vorstellung einer Vielheit an Avataras wird in der Bhagavad-Gita angedeutet und im Bhagavata-Purana sehr ausführlich dargestellt.

Könige und Krieger (die Kshatriyas) früherer Zeitalter, verpflichteten sich auf den Ethos und die Kampfehre, welche von Rama, dem König von Ayodhya, vermittelt wurde. So zierte z. B. Arjunas Streitwagen, in der Schlacht von Kurukshetra (siehe Mahabharata), die Flagge Hanumans, welcher als größter Geweihter Ramas betrachtet wird.

Durch Krishna wurde auch der Weg zu Moksha (Erlösung, Befreiung vom schier endlosen Kreislauf von Geburt und Tod) erneut definiert:

  • Einerseits pflichtgemäßes – vor allem selbstloses – Handeln in der Gesellschaft und
  • andererseits bedingungslose Hingabe (Bhakti) zum Höchsten. In der Bhagavad-Gita wird Bhakti-Yoga, die bedingungslose (von materiellen Absichten freie) Hingabe, mehrmals als höchster Yoga hervorgehoben, wie z. B. im Vers 6.47.

Vier traditionelle Vaishnava-Schulen (Sampradayas)

Vishnuismus, d. h. Bhakti, liebende Verehrung zu den spirituellen Formen Vishnus, wird nach dem Selbstverständnis der Vishnuiten durch vier verschiedene Guru-Sampradayas1 überliefert:

In allen vier Schulen ist die liebende Hingabe (Bhakti) zum Avatari oder einer seiner Erweiterungen der zentrale Punkt der Verehrung und Lehre.

1 Wörtlich: guru = Lehrer; sam = unverfälscht und treu; pra = weiter, daya = geben.
Ein persönliches System der Wissensvermittlung von Lehrer zu Schüler, ohne institutionelle Struktur. Und wer immer später in einem der Schüler einen Lehrer sah, bat um Unterweisung und wurde eventuell so zu einem neuen Schüler in der Lehrer-Schüler-Nachfolgelinie.
Traditionell war es üblich, dass ein Lehrer maximal zwölf Schüler unterrichtete. Ausnahmen bestätigten auch in alten Zeiten die Regel.

Lehre

Bhakti-Yoga ist der Dreh- und Angelpunkt aller Tätigkeit der Vishnuiten und ist das verbindende Element aller vier Schulen.

Krishna sagt:

„Denke an mich, sei mein Bhakta, verehre mich und erweise mir deine Ehrerbietung. Auf diese Weise, unerschütterlich mit mir verbunden, wirst du mich, das höchste Ziel, erlangen.“ (Bhagavad-Gita 9.34)

Bhakti-Yoga, die Rückbindung an das Absolute durch liebende Verehrung, erfordert zwingend ein dualistisches Gottesverständnis. Es benötigt den Liebenden, den Verehrenden und den Geliebten, den Verehrten, welche immer zwei sind und nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem undifferenzierten Eins verschmelzen. Es ähnelt dem Spruch, ein  Herz und eine Seele zu sein, womit keine Verschmelzung angedacht ist, sondern eine innige Liebesbeziehung von Herz zu Herz, von Seele zu Seele.

Die Nachfolger dieser vier Sampradayas lehren auch heute noch ein philosophisches Konzept der ewigen transzendenten Dualität. Manche betonen dabei zusätzlich die gleichzeitige qualitative Einheit.
Krishna, Vishnu ist der einzige höchste Herr, die zahllosen Seelen sind ewige Individuen und der Materie (Maya-Shakti, Prakriti) übergeordnet. Gleichzeitig sind alle Atmans und die Prakriti Vishnus untergeordnete Energien (Shaktis). Die Seelen sind bewusst, Materie ist unbewusst, leblos, und wird von den Seelen, die in die fein– und grobstoffliche Materie eingehen, belebt.

Deshalb lehrte Sri Chaitanya das „unbegreifliche gleichzeitige Eins- und Verschieden-Sein Gottes mit all seinen Energien“, acintya-bheda-abheda-tattva.

Dasselbe Prinzip ist auf ähnliche Weise auf die Gesamtheit aller Seelen (Tata-stha-Shakti) anzuwenden. Die Seelen (Atmans) sind alle gleich und bilden eine qualitative und quantitative Einheit und gleichzeitig sind alle individuell voneinander verschieden.
Ähnlich bilden wir Atmans mit Gott eine qualitative Einheit, aber gleichzeitig gibt es eine quantitative Verschiedenheit.
Siehe hierzu die 64 Haupteigenschaften von Krishna unter Radha-Krishna
Die Atmans besitzen 50 von den erwähnten 64 Haupteigenschaften in winzigem Ausmaß

Es wird auf ewig einen Unterschied zwischen Energie und Energieursprung geben. Solange sich der Atman wünscht, Gott zu sein, solange verbleibt er in der Maya-Shakti oder in einem passiven Zustand in der Tata-stha-Shakti.
In der Cit-Shakti, den ewigen unbegrenzten Welten Gottes, kennt jedes Wesen das wahre Zentrum allen Seins. Dort gibt es keinen Raum für Seelen, die Gott spielen möchten. Hier gibt es nur Raum, um Gott in vielfältiger Weise zu lieben.

Ursprung

Im Selbstverständnis der Vaishnavas und der vedischen Offenbarungstexten ist Bhakti zu Vishnu (Krishna und all seine Erweiterungen) ohne Anfang und Ende, genauso wie die Seelen und Gott selbst ohne Anfang und ohne Ende sind.

Bhakti zum höchsten Herrn ist manchmal in der Welt klar oder auch nur verschwommen sichtbar und manchmal ist sie gar nicht sichtbar. Ähnlich der Sonne, die am Tag hell scheint, aber zur Zeit der Dämmerung oder bei Bewölkung nur indirekt und während der Nacht gar nicht wahrgenommen wird. Wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder ihr Licht in die Welt trägt, ist es immer noch dieselbe Sonne, die auch an früheren Tagen ihr Licht verbreitet hat.

Krishna spricht:

„Dieses Yoga wurde durch die Linie königlicher Seher weiter gereicht. Doch nach einer sehr langen Zeit ging dieses Yoga hier auf Erden verloren. Weil du mein Geweihter bist, wird dir jetzt dieses uralte Yoga, welches das höchste Geheimnis ist, von mir erklärt werden.“
(Bhagavad-Gita 4.2-3)

Gemäß Mahabharata wurden diese Worte noch vor Beginn des jetzigen Kali-Yuga gesprochen, was uns eine Ahnung vermittelt, wie alt Vishnuismus sein muss, der so tief in die Vergangenheit hinein reicht, dass er sich einer objektiven wissenschaftlichen Datierung entzieht.

Die wichtigsten Texte des Vishnuismus

Vishnuismus heute

Der Vishnuismus ist heute vielleicht die nach der Zahl der Gläubigen größte unter den indischen Religionen, dicht gefolgt vom Shaivismus.
Er ist heute besonders im indischen Mittelstand populär. In Nordindien vor allem durch die Brahma-Sampradaya und in Südindien durch die Sri-Sampradaya vertreten. Doch diese Grenzen verwischen immer mehr, da sich gegenwärtig alle Sampradayas ausdehnen. Die Vaishnavas der Gaudiya-Sampradaya sind inzwischen auf allen Kontinenten anzutreffen.

Früher europäischer Vishnuit

Der erste bekannte westliche Vishnu-Geweihte war Heliodorus (2. Jh. v. Chr.), ein griechischer Botschafter am Hof von König Kasiputra Bhagabhadra. Zu Ehren Vasudevas (ein Name Krishnas) ließ er eine Säule errichten, die folgenden Text enthält:

„Diese Garudasäule von Vasudeva (Krishna), dem Gott der Götter (Devadeva), wurde von Heliodorus aufgestellt, einem Verehrer von Vishnu, dem Sohne Dions, einem Bewohner von Taxila, der als griechischer Botschafter vom großen König Antialkidas hierher zum Hofe des Königs Kasiputra Bhagabhadra, dem Retter, kam, der im 14. Jahre seiner Königschaft sehr erfolgreich regiert.“

Thomas Hopkins, der Leiter der Abteilung für religiöse Studien am Franklin- und Marshal-College, sagte:

„Heliodorus war höchstwahrscheinlich nicht der einzige Ausländer, der zum Vaishnava wurde, obwohl er vielleicht der einzige war, der eine Säule errichtete, zumindest eine, die bis heute steht. Mit Sicherheit muss es viele andere gegeben haben.“

Siehe die Garuda-Säule von Heliodurus

Siehe auch
Weblinks