Brahma

Brahma (Brahmā), der Weltschöpfer, der erste Sänger und Dichter (Adikavi). Ein besonders ermächtigter Atman, der das Innere eines Brahmanda, mit all seinen fein- und grobstofflichen Welten und passenden Körpern, gestaltet.

Für jedes der zahllosen Brahmandas wird von Garbhodakashayi-Vishnu ein geeigneter Atman für das Amt des Brahma ausgesucht und sollte kein geeigneter Atman zur Verfügung stehen, übernimmt er selbst (Vishnu) diese Aufgabe.

Brahmas Geburt

Brahma und andere Devas beten an den Ufern des Milchozeans zu Garbhodakashayi-Vishnu.

Sobald der zweite Purusha (Garbhodakashayi-Vishnu) zum Urgrund des Universums (Brahmanda) geworden ist, wächst aus seinem Nabel ein mystischer Lotos empor, so heißt es in der Bildersprache der Schriften. Im Kelch dieses Lotos erwacht ein hochentwickelter Jiva zum Bewusstsein, der für reif befunden worden ist, das Amt eines Brahma zu übernehmen.

Es liegt nun beim jeweiligen Brahma, die Schöpfung fortzusetzen und mit dem Guna Rajah und durch die Kraft des vedischen Wortes die Welten und die Körper der auf die physische und feinstoffliche Materie ausgerichteten Atmans zu bilden. Die Welten von Zeit und Raum, die von jedem Brahma – in den unzähligen Universen – aus Mayastoff gebildet werden, sind die so genannten „Vierzehn Welten“. (Mit dem Begriff „Vierzehn Welten“ ist eine nicht klar definierte Zahl von grobstofflichen und hauptsächlich feinstofflichen Welten gemeint, bewohnt von Atmans mit den dazu passenden Bewusstseinszuständen.) Sieben davon, die Reiche (Bewusstseinsebenen) Atala, Vitala, Sutala, Talatala, Mahatala, Rasatala und Patala. Sie gehören zu den unteren Welten der Asuras, sie liegen, bewusstseinsmässig, tiefer als die Erde. Sechs davon liegen über der Erde (Bhu), nämlich Bhuvah, Svah, Mahar, Tapah, Janah und Satyaloka; letzteres ist das hohe Reich von Brahma selbst.
Es sind einerseits Bewusstseinsebenen und doch sind es andererseits auch geographische Bereiche, wenn auch aus solch feiner Natur gebildet, dass sie sich unseren sinnlichen als auch unseren instrumentalen Wahrnehmungsfähigkeiten entziehen. Die höchsten dieser Welten bestehen aus dem reinen Guna Sattva der Maya. Sie und ihre Wesen, die Körper aus Sattva besitzen, sind für menschliche Augen unsichtbar und auch durch unsere Instrumente nicht erfassbar. 

Jeder Brahma vollbringt sein Schöpferwerk 36’000 Mal. Die Lebensdauer jeder dieser Weltschöpfungen beträgt den Puranas zufolge 4’320 Millionen irdischer Jahre, also ein Tag oder zwölf Stunden des Lebens Brahmas, und ebenso lange dauert seine Nacht. (Mit Ausnahme der vier höheren Reiche von Mahar bis Satyaloka werden alle Welten am Beginn jeder Brahma-Nacht aufgelöst.) Am Ende des Lebens eines Brahma (nach 311 Billionen und 40 Milliarden irdischer Jahre) beginnt die lange Nacht einer großen Weltauflösung (Maha-Pralaya), die ebenso lange währt, wie das ganze Leben eines Brahma. Die Shakti der Maya verbleibt im unmanifestierten Zustand. Danach tritt ein anderer Atman in das Amt des Weltenschöpfers.

Im Bhagavatam stößt man auf zwei verschiedene Berichte über eine Weltschöpfung (die innere Schöpfung unseres Brahmanda). Eine vollzieht sich zu Beginn der zweiten Lebenshälfte Brahmas. Bereits viele Male hat da Brahma sein mühevolles Schöpfungswerk getan. Immer wieder hat er voll Trauer das Elend der Lebewesen gesehen, deren Körper er selbst bildete, und nun spricht er klagend zu Garbhodakashayi-Vishnu (dem zweiten Purusha), der sein eigener Grund ist:

„Mein Geist wird verzweifelt, o Du Weithinschreitender (Urukrama), wenn ich alle diese Geschöpfe sehe mit ihrer untragbaren Last, immer wieder gequält von ihren drei Körpersäften (Vata, Pitta und Kapha) und von Hunger und Durst, Hitze und Kälte und Sturm und Regen; und die Qual ihres unzähmbaren Zornes, erzeugt durch das Feuer ihres Lustbegehren1.“
(Bhagavatam 3.9.8)

1 Die Lust nach Ruhm, Ehre, Macht, Sinnenfreude usw.

Die andere Szene beginnt Billionen von Jahren vorher in der frühen Morgendämmerung der allerersten Weltschöpfung durch unseren Brahma. Der hohe Jiva (Atman), der nun ein Brahma werden soll, erwacht zum ersten Mal im Kelch des Lotos zum Bewusstsein. Brahma, der erste geistige Meister (Guru), das höchste Wesen im Universum, konnte den Ursprung seines Lotossitzes nicht herausfinden. Während er daran dachte, die Welten unseres Universums zu erschaffen, konnte er die geeignete Anweisung für dieses Schöpfungswerk nicht verstehen und den Vorgang für diese Schöpfung nicht herausfinden. Während Brahma so nachdachte, hörte er aus der Nähe zweimal zwei miteinander verbundene Silben, nämlich „Tapah“. Als er den Klang hörte, versuchte er den Sprecher herauszufinden, indem er nach allen Seiten forschte. Doch als er nicht imstande war, jemanden außer sich selbst zu finden, hielt er es für klug, sich entschlossen auf seinen Lotossitz zu setzen und der Anweisung gemäß, seine Aufmerksamkeit auf die Ausübung von Tapasya (Entsagung) zu richten.
Die Willigkeit Brahmas ist ein Ausdruck von Bhakti-Yoga, welches Gottes eigene Kraft ist. Diese Bhakti hat den Höchsten angezogen und „zwingt“ ihn, sich vor Brahma sichtbar zu machen. So erschien Vishnu, die Persönlichkeit Gottes, und es gefiel ihm, Brahma sein persönliches Reich, Vaikuntha, sichtbar werden zu lassen.

Als Brahma ihn auf diese Weise in seiner Fülle sah, wurde er in seinem Herzen von Freude überwältigt, und so füllten sich seine Augen mit Tränen der Liebe.
So wurde Brahmas Gotteserkenntnis, die sein Reich miteinbezieht, immer tiefer. Er bat Narayana um die Kraft und Fähigkeit das Universum, gemäß seinem Wunsch, gestalten zu können.
Im Verlauf ihres Gesprächs sprach Narayana:

„Wissen über mich ist sehr vertraulich. Es muss in Verbindung mit Bhakti erkannt und verwirklicht werden. Nimm bitte dieses Geheimnis und den Weg zu diesem mit Gewissenhaftigkeit auf. Meine wahre ewige Gestalt, meine transzendente (sich jenseits der Maya befindende) Existenz, meine transzendenten Eigenschaften, meine Taten und Spiele, meine Formen und Farben; durch meine Gnade soll dir die unmittelbare Erkenntnis meines Wesens zuteilwerden.“
(Bhagavatam 2.9.31-32)

Die vier Urstrophen des Bhagavatam

Es folgen nun die vier „Urstrophen“ des Bhagavatam:

„Ich bin es, der höchste Gott, der vor der Schöpfung existierte, als es nichts außer mir gab, nicht einmal die Prakriti, die Ursache dieser Schöpfung. Nach der Schöpfung existiere nur ich in allen Dingen, und nach der Vernichtung bleibe nur ich.“
(Bhagavatam 2.9.33)

„Was immer von Wert (Wahrheit) zu sein scheint, besitzt keine Wirklichkeit, wenn es nicht mit mir verbunden ist. Wisse, dass es meine täuschende Energie (Maya-Shakti) ist, jene Widerspiegelung (der Wirklichkeit), die sich in Dunkelheit befindet.“
(Bhagavatam 2.9.34)

„So wie die universalen Elemente in den Kosmos eingehen und zugleich nicht in den Kosmos eingehen; so wie der Atman in die Elemente des Körpers eingeht und zugleich nicht in die Elemente eingeht; in ähnlicher Weise existiere auch ich innerhalb alles Erschaffenen, und zur gleichen Zeit befinde ich mich außerhalb aller Dinge.“
(Bhagavatam 2.9.35)

„Wer nach der höchsten absoluten Wahrheit, der höchsten Persönlichkeit (Gott) sucht, muss zweifellos unter allen Umständen, überall und zu jeder Zeit – direkt und indirekt – nach ihr forschen.“
(Bhagavatam 2.9.36)

Sri Narayana ermahnt Brahma noch zusätzlich mit den Worten:

„Bleibe gefestigt in dieser Schlussfolgerung durch feste Sammlung des Geistes (auf mich), und kein Stolz wird dich stören; weder während der Teilvernichtungen (Brahmas Nächte) noch während der Endvernichtung (die Auflösung des Universums und somit Brahmas Tod).“
(Bhagavatam 2.9.37)

Narada Muni

Später berichtet Brahma seinem Sohn und Schüler Narada von dieser Begegnung mit dem Höchsten, die vor der Schöpfung, bzw. inneren Ausgestaltung dieses Universums stattfand. Er übermittelt Narada die vier Urstrophen, die sich zur Essenz des Veda, dem Bhagavatam, entfalten werden. Damit eröffnet er die Sampradaya, die von Gott selbst ausgeht und die bis in unsere Tage reicht. Brahma übergibt Narada Muni, der noch grösser ist als er, die Kraft der erkennenden Liebe, die er selbst mit den Strophen erhielt, und sagt zu ihm:

„Weil ich mich mit grosser Sehnsucht und Hingabe an den höchsten Herrn Hari geklammert habe, hat sich das, was ich sage, noch nie als falsch erwiesen. Weder wird der Fortschritt meines Geistes aufgehalten, noch erniedrigen sich meine Sinne durch Anhaftung an die substanzlose Materie.“
(Bhagavatam 2.6.34)

Zeittafel